Displaced Women: Frauen- und geschlechterhistorische Perspektiven auf Migration und Neuansiedlung in der unmittelbaren Nachkriegszeit
Ein Erfahrungsbericht zur universitären Lehre an der Comenius Universität in Bratislava, Februar–März 2024
Franziska Lamp-Miechowiecki, BA BA MA
Im Frühjahr 2025 hatte ich die Möglichkeit am Institut für Allgemeine Geschichte der Comenius Universität Bratislava zusammen mit zwei anderen Doktorandinnen – Dorota Tóthová und Gabriela Pošteková – ein Seminar abzuhalten[PS1] [PS2] . Ich war dabei allein verantwortlich für die Gestaltung der ersten 5 Einheiten. Dieses Seminar zielte auf Masterstudierende mit guten Englischkenntnissen ab und war im Bereich Zeitgeschichte und Gender Studies angesiedelt[PS3] . Ermöglicht wurde mir die Durchführung des Seminars von meiner Betreuerin [PS4] in Bratislava, doc. Mgr. Eva Škorvanková, PhD.
Da dies die erste Lehrveranstaltung sein sollte, die ich eigenständig – sprich nicht im Rahmen von Tutorien oder Studienassistenzen – abhalten sollte und dies noch dazu an einer Universität mit deren Lehrplänen ich nicht so vertraut war wie mit jenen an meiner Heimatuniversität, der Universität Wien, widmete ich mich bereits früh der Planung der insgesamt fünf englischsprachigen Einheiten zu jeweils 90 Minuten. Klar war für mich, dass ich sie dem Überthema Displacement, Refugeedom und Gender History widmen würde und zwar für den Zeitraum der späten 1940er und frühen [PS5] 1950er Jahre. Ich entschied mich daher für meinen Teil des Seminars für den Titel „Migration History in Post-War Europe: A Gendered Perspective“. Meine Kolleginnen widmeten ihre Einheiten schließlich vor allem den Zugängen und Methodiken der Gender und Queer History, wobei [PS6] auch sie sich mit der Analyse von Primärquellen befasste[PS7] n.
Während meiner ersten und damit in die Thematik des Seminars einführenden Einheit, war es vor allem mein Ziel, die Studierenden näher kennenzulernen und zu verstehen, aus welchen Disziplinen sie kamen und welches Vorwissen sie mitbrachten. Zudem war es für mich wichtig, Ihnen den Aufbau meiner Einheiten und die didaktischen Vorgaben und Anforderungen zu erklären. Ich machte sie dabei mit dem Seminarplan für meine fünf Einheiten bekannt, welcher vorsah, dass sie sich sowohl mit Originalquellen als auch mit Forschungsliteratur zum Thema des Seminars auseinandersetzten. Es stellte sich heraus, dass die Mehrzahl der insgesamt acht Studierenden meines Kurses sehr unterschiedliche fachliche Hintergründe hatte. So gab es neben den klassischen Geschichtestudierenden auch Studierende der Rechtswissenschaften sowie mehrere Studierende aus dem Bereich der Psychologie und einzelne aus den Literaturwissenschaften.
Zentrale Voraussetzung für die positive Absolvierung des Seminars war die Lektüre, der von mir vorgeschriebenen Texte (ungefähr 20-25 Seiten pro Woche) sowie die Besprechung einzelner von mir zugewiesener Fragestellungen in Zweiergruppen. Hier orientierte ich mich an einem Konzept, dass ich bereits am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien in einem Seminar von Univ.-Prof. Dr. Monika Bernold kennengelernt habe – dem der „Lektürekarten“. [PS8] Allerdings erweiterte ich es ein wenig und ließ mir für jede Einheit neue Fragestellungen einfallen, die die Studierenden als Vorbereitung auf das Seminar in Zweiergruppen beantworten sollten[PS9] , bevor wir sie dann gemeinsam im ersten Teil jeder Einheit besprachen. Dabei konnte ich erstens sicherstellen, dass die Studierenden die Texte auch tatsächlich gelesen hatten und zweitens entstanden dabei bereits sehr spannende Diskussionen über Leseeindrücke und offene Fragen.
Besonders hilfreich für die Entwicklung eines Konzepts für diese Lehrveranstaltung war auch das Buch von Sarah G. Hoffmann und Björn Kiehne „Ideen für die Hochschullehre. Ein Methodenreader[PS10] “, welches über spannende Tipps sowohl für Erstlehrende als auch innovative Konzepte für bereits erprobte Lehrende verfügt. Ebenfalls praktisch an diesem Werk ist, dass am Anfang jeder vorgestellten Lehrmethodik angeführt ist, wie viel Zeit für die Vorbereitung und wie viel Zeit für die Durchführung anzuberaumen ist. Besonders wertvoll für mich war hier der Beitrag über die sogenannten „Denkhüte[PS11] “ (S. 25-26), dem ich auch weitere Ideen für die „Lektürekarten“ abgewinnen konnte.
Doch nun ein paar Worte zu dem von mir [PS12] [PS13] verwendeten Konzept der „Lektürekarten“. Für die einzelnen Einheiten teilte ich meine insgesamt acht Seminarteilnehmer:innen in Zweiergruppen ein. Ich stellte jeder der vier Gruppen zu jeder Einheit zwei Lektürefragen, beispielsweise: „Was war die zentrale Forschungsfrage des zu lesenden Textes?“, „Was sind die zentralen Quellen, auf denen der Text aufbaut?“, „Welche zentralen Erkenntnisse konntet ihr aus dem Text mitnehmen?“, „Welche weiterführenden Forschungsfragen stellt ihr euch nach der Lektüre des Textes?“. Für den Rest jeder Einheit überlegte ich mir zudem noch weitere „Close Reading“-Fragen, die ich den Seminarteilnehmenden während der Einheit stellte und mit welchen ich hoffte eine lebendige Diskussion entstehen lassen zu können. Zu meiner großen Freude, ist dies auch gelungen und die Studierenden gaben mir während und am Ende der Lehrveranstaltungen das Feedback, dass sie gerade diesen debattenorientierten Zugang des Seminars schätzten.
Um den Studierenden jedoch den Einstieg in die Thematik des Seminars zu erleichtern, widmete ich auch stets die letzten 30 Minuten jeder Seminareinheit dem historischen Kontext, in dem die Texte für die Lektüre einzubetten waren. [PS14] Als Vorbereitung für die zweite Einheit waren dies die Texte „We refugees“ von Hannah Arendt aus 1943 [PS15] sowie für den methodischen Kontext der Text „Migration Histories“ der niederländischen Historikerin Marlou Schrover[1]. Anhand des „We refugee“-Textes war es möglich mit den Studierenden, zentrale Problematiken des Flüchtlingsdaseins sowie wiederkehrenden Themen, mit denen sich die Refugee History beschäftigt, zu besprechen. Hier zeigte sich, dass insbesondere die Psychologie-Studierenden viel Interesse und besondere Begeisterung für den Arendt-Text mitbrachten, wodurch ich der näheren Auseinandersetzung mit dessen Inhalt viel Raum gab. Für die nächste Einheit sollten die Studierenden ein Kapitel aus Gerald Daniel Cohen’s Buch “In War’s Wake: Europe’s Displaced Persons in the Postwar Order“ lesen (“Who is a refugee?’: From ‘Victors’ Justice’ to Anti-Communism”). Dieser Text eignete sich sehr gut, um einen Einblick in die Definitionen rund um die Begriffe „Flüchtling“ und „Displaced Person“ zu geben sowie in den Prozess des „Eligibility Screenings“ durch die International Refugee Organisation (IRO). Dieses Paper wurde dann im Rahmen der Einheit auch verwendet, um ein Beispiel einer Primärquelle in einer kurzen Gruppenarbeit zu diskutieren. Dafür bereitete ich für die Studierenden einzelne Ausschnitte aus dem „Manual for Eligibility Officers“ der IRO vor,[2] sowie beispielshaft ein sogenanntes „Care & Maintenance“-File[3]. Ziel hierbei war es herauszuarbeiten, welchen offiziellen Kriterien die Mitarbeiter*innen der IRO während ihrer Interviews mit Displaced Persons und anderen Flüchtlingen theoretisch Folge leisten sollten, und wie dies in der Praxis anhand einzelner Fälle aussehen konnte.
Eine weitere Einheit des Seminars widmeten wir der Problematik rund um das Wiederfinden von Familienmitgliedern, von denen man durch Verschleppung, Verfolgung beziehungsweise durch den Kriegsverlauf getrennt wurde. Wir lasen hierfür als Vorbereitung einen Text von Tara Zahra[4], welcher sich unter anderem der Situation sogenannter „lost children“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit widmet, sowie die humanitäre Arbeit und das Selbstverständnis von Organisationen wie der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Dem Thema rund um die „unaccompanied children“ der unmittelbaren Nachkriegszeit widmete sich auch der Film „The Search“ von Fred Zinneman aus dem Jahr 1947, von dem wir während der Lehrveranstaltung ausgewählte Passagen gemeinsam ansahen und im Kontext des Textes von Tara Zahra diskutierten. Durch die Zusammenschau dieser – mit 1947 – sehr zeitnahen Quelle und dem bereits in den vorherigen Einheiten Gelernten, ergaben sich besonders spannende Diskussionspunkte. Die letzten beiden Einheiten des Seminars widmeten wir schließlich den weiteren Lebenswegen von Displaced Persons und Flüchtlingen und besprachen die Auswanderungsmöglichkeiten nach Australien, Großbritannien und Kanada. Es wurden die staatlichen Programme und Richtlinien zur Ansiedlung (Resettlement) dieser Personengruppen in Übersee diskutiert sowie deren Auswirkungen auf individuelle Lebensverläufe. Um die geschlechterhistorische Perspektive des ganzen Seminars auch hier weiterzuverfolgen, widmete sich die Texte unter anderem jenen Hausangestellten und Krankenschwestern, die aus den Flüchtlingslagern in Europa in der unmittelbaren Nachkriegszeit rekrutiert wurden, um anschließend in Kanada und Australien zu arbeiten. [PS16]
Insgesamt war die Abhaltung dieses Seminars für Masterstudierende an der Comenius Universität in Bratislava für mich eine besonders positive und lehrreiche Erfahrung. Die Studierenden waren fast ausnahmslos sehr involviert in die Besprechung und Diskussion der Texte sowie der von mir ausgewählten historischen Quellen. Im Laufe des Seminars zeigte sich, dass die Studierenden eine solch interaktive und niederschwellige Art der Lehrveranstaltung sehr begrüßten, die es ihnen erlaubte, kritisch über das Gelesene zu reflektieren sowie sich darin zu üben eigene Forschungsfragen zu entwickeln.
[1] “Migration Histories,” in: P. Scholten, (eds), Introduction to Migration Studies. IMISCOE Research Series. Springer, Cham. 2022, p. 25-46.
[2] Diese wurden den Officers der IRO ausgehändigt, um ihnen die Arbeit mit Flüchtlingen zu erleichtern und hierfür konkrete Handlungsabläufe und Richtlinien festzulegen. Das Manual wurde digitalisiert und ist hier online einsehbar: https://digital-library.arolsen-archives.org/content/titleinfo/7259570?lang=en&query=Manual+for
[3] Dieses Dokument entstammt auch dem Kontext der IRO und wurde ab 1947 an Personen ausgehändigt, deren Anfrage auf Unterstützung durch die UN-Organisation dadurch überprüft und allenfalls genehmigt, oder abgelehnt werden sollte.
[4] “The Psychological Marshall Plan”: Displacement, Gender, and Human Rights after World War II“. Central European History 44, Nr. 1 (März 2011): 37–62. https://doi.org/10.1017/S0008938910001172, p. 42.



