Historia Prima – ein studentisches Jahrbuch als hochschuldidaktisches Experiment und Erfolgsgeschichte
Severin Cramm
Immer wieder wird diskutiert, wie Studierende angesichts immer stärkerer Bürokratisierung und enger Regeln der Zugang zu Forschung und Wissenschaft ermöglicht werden kann. Wie können Studenten an das sehr selbstgesteuerte und eigenverantwortliche wissenschaftliche Arbeiten und Publizieren geführt werden, während sie gleichzeitig durch starke Verschulung universitärer Lehre zu Zuhörern und Rezipienten gemacht werden. Historia Prima ist eine Antwort auf genau diese Frage – ein innovatives Lehr- und Forschungsprojekt, das in seinen Vorläufern bis auf das Semester 2020/2021 zurückgeht.
Unser hochschuldidaktischer Anspruch
Das Lehrprojekt Historia Prima verbindet drei innovative und viel diskutierte didaktische Konzepte der Hochschullehre, um dies zu erreichen: Das Student Centered Learning oder studentenzentrierte Lernen basiert auf der konstruktivistischen Lerntheorie, wonach der Lernende die Bedeutung des Gelernten auf Grundlage seiner individuellen Erfahrungen selbst konstruiert. Nach dieser didaktischen Lehre übernimmt der Lernende selbst die Bewertung der Fortschritte im Lernprozess und der daraus zu ziehenden Konsequenzen. Deshalb verfolgen SCL-zentrierte Programme und Projekte einen starken Fokus auf projektorientiertes, interdisziplinäre und feedbackgeleitetes Lernen. Sie verlangen eine flexible und adaptive Konzentration der Ressourcen auf den einzelnen Lernenden.
Das zweite grundlegende Konzept, das diesen Ansatz erweitert, ist das des problembasierten Lernens. Dieser Ansatz fokussiert vor allem auf die konkrete Aufgabengestaltung im Projektverlauf und verlangt, dass Studierende selbstständig an komplexen, mehrstufigen Aufgaben arbeiten und diese aktiv, individuell und kooperativ bearbeiten. So nähert sich die Hochschullehre selbst einem forschungsorientierten Zyklus an, um so die wissenschaftliche Methodik am Beispiel praktisch zu erproben und das Selbstwirksamkeitsgefühl der Studierenden zu steigern.
Kombiniert werden diese beiden Ansätze bei Historia Prima mit der outputorientierten Lehre, wonach die Studierenden weitgehend selbstständig selbst Zwischenziele setzen und sich in Teams organisieren, um ein klares Ziel zu erreichen: die Publikation der nächsten Ausgabe ihrer studentischen Jahresschrift. Dies soll die konkreten Lerneffekte durch starke Eigenständigkeit und die eigenständige Methodenwahl stärken. Zudem soll die intrinsische Motivation der Studierenden durch das konkrete Ziel massiv gesteigert werden.
Als Kombination dieser didaktischen Ansätze entstand das Projekt Historia Prima als „Praxis- und Lernwerkstatt“, in der Studierende anhand konkreter Fälle die Praxis des wissenschaftlichen Publizierens kennenlernen, Methodiken der Forschung aneignen und durch eigene Anwendung dauerhaft festigen. In Historia Prima erreichen wir dies durch die Befähigung und Eigenverantwortlichkeit der Studierenden selbst. Nach einem Grundwissen schaffenden Crashkurs zu wissenschaftlichen Prinzipien und Lektoratspraxis werden die Studierenden selbst zu den handelnden Akteuren, legen inhaltliche Schwerpunkte, methodisches Vorgehen und Teams bzw. Kollaborationswege fest. Das Dozierenden-Team übernimmt die Rolle der klassischen Lernbegleitung, die den selbst organisierten Lernprozess der Studierenden unterstützen und steuern.
Vor allem lernen die Studierenden durch die Anwendung selbst die Vorteile des genauen, validen und reliablen wissenschaftlichen Arbeitens. Sie erproben als Gutachtende den Peer-Review-Prozess und Feedback-Mechaniken. So werden sie selbst indirekt auf den Publikationsdruck in der Wissenschaft und auf die Begutachtung ihrer Studien vorbereitet. Die Studierenden erreichen durch diesen sehr eigenständigen, forschungsvorbereitenden Ansatz ein zentrales Rüstzeug an Kompetenzen für den späteren wissenschaftlichen Werdegang. Ihre Kritikfähigkeit, ihre Fähigkeit zum konstruktiven Kritisieren, die Problemlösungsfähigkeit und die soziale Kollaborationsfähigkeit werden durch die Anwendung deutlich gestärkt.
Nicht zuletzt wird zudem auch ihr inhaltliches Wissen gefestigt, da sie im Laufe des Seminars mehrere inhaltliche Fachartikel nicht nur lesen und verstehen, sondern im wissenschaftlichen Kontext einordnen, beurteilen und diskutieren müssen. So werden auch Konzepte iterativen Arbeitens in den Projektverlauf integriert und wissenschaftliche Kompetenzen direkt gestärkt.
Das Projektseminar
Im Laufe der mittlerweile drei Jahre Projektzeit hat sich ein prototypischer Projektablauf etabliert, der mehrfach angepasst und iterativ an die Interessen der studentischen Redakteur:innen, der studentischen Autor:innen, der betreuenden Dozierenden und des Universitätsverlags Hildesheim (in dem das Jahrbuch erscheint) angepasst wurde.
Demzufolge wird jeweils zum Anfang des Jahres ein CfP (Call for Papers) gemeinsam mit dem zu diesem Zeitpunkt bestehenden studentischen Redaktionsteam ausgearbeitet, in dem Erkenntnisse und neuere Entwicklungen aus dem letzten Jahrgang berücksichtigt werden.
Dieser wird zunächst auf der Projekt-Webseite veröffentlicht und gegenüber den bisherigen studentischen Redakteur:innen und studentischen Autor:innen kommuniziert, um zunächst persönliche Kontakte und Netzwerke zu aktivieren. In einem zweiten Schritt wird der CfP spätestens im Juni/Juli des Jahres online beworben, um so mit dem Hauptinteresse das Ende der Vorlesungszeit der niedersächsischen Universitäten zu bespielen.
Zusätzlich werden ab Ende Juli, Anfang August die weiteren Netzwerke zu engagierten und bereits zuvor kooperierenden Lehrbeauftragten, Dozierenden, wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen, Professor:innen und Institutsleiter:innen in Niedersachsen aktiviert. So werden diese in dem Zeitraum an die Einsendung erinnert, in dem sie selbst mit der Betreuung, Bewertung und Begutachtung von studentischen Haus- und Abschlussarbeiten beschäftigt sind und so Studierende selbst direkt ansprechen können.
Zudem werden nun über die studentischen Redakteur:innen des letzten Jahres und verschiedene Mailverteiler und Universitäts-Webseiten Studierende angeschrieben, die sich für das Projektseminar interessieren und sich auch die zusätzliche Mühe, die mit dem Projekt einhergehen, zutrauen.
In einem ersten Schritt sichtet das Projektleitungs- und Dozierenden-Team von Historia Prima die eingesandten Artikel und prüft ausschließlich, ob diese grundlegenden Qualitätsansprüchen und formale Kriterien entsprechen. Dazu sollten die Abstracts zunächst 250-300 Wörter umfassen und Inhalt, Methodik und Erkenntnisse darstellen. Erfüllen die Abstracts die Grundansprüche, werden die studentischen Autoren zur Einsendung der umfänglichen Texte aufgefordert.
Ab dem Oktober des Jahres beginnt dann auch die Arbeit für das studentische Redaktionsteam. Die Teilnehmenden erhalten in der Regel jeweils einen Text zugeteilt und müssen diesen für das erste von drei Blockseminaren vorbereiten, also auf Qualität und Relevanz prüfen. Dafür bekommen die Studierenden von den Dozierenden einen ersten Leitfaden, mit dem die erste Einschätzung vorgenommen werden soll.
Vor Ort erhalten die Studierenden dann einen grundlegenden Crashkurs in wissenschaftlichen Arbeitsweisen, insbesondere zum Formulieren adäquater Fragestellungen, wissenschaftlichem Zitieren und in der Textstrukturierung. Außerdem werden die zu schreibenden Gutachten, insbesondere konstruktive Kritik am Text thematisiert. Die studentischen Einsendungen werden dann im Gesamtkurs vorgestellt und besprochen. Als Ergebnis des ersten Blockseminars steht zunächst eine Bewertung der Frage, ob die Texte für die Weiterarbeit geeignet sind und es wird demokratisch über die Annahme der Texte abgestimmt. Die angenommenen Texte werden dann unter den Studierenden neu verteilt und die Gutachten erstellt. Währenddessen verschickt das Dozierenden Team die abgelehnten Texte und erstellt für diese aufgrund der studentischen Rückmeldung ein Kurzgutachten inklusive Verbesserungsvorschlägen.
Die von den Studierenden zu erstellenden Gutachten werden auf Grundlage der Qualitätsprüfung, der Redaktionsdiskussionen und ihrer eigenen Einschätzung erstellt. Sind diese fertig, erhalten die studentischen Redakteure die Kontaktdaten ihrer studentischen Autor:innen. Bis zum nächsten Blockseminar nehmen die betreuenden Redakteur:innen Kontakt zu ihren studentischen Autor:innen auf, besprechen die Kritikpunkte mithilfe des Gutachtens, die aus der Begutachtung hervorgingen und überarbeiten die Texte entsprechend gemeinsam.
Im nächsten Seminar stellen die studentischen Redakteur:innen dann nicht nur ihre Gutachten, sondern auch die Zusammenarbeit mit den Autoren und die überarbeiteten Texte in der Redaktionssitzung vor. Gemeinsam diskutieren die studentischen Redakteur:innen den weiteren Umgang mit den studentischen Autor:innen, die Weiterentwicklung oder bestehenden Kritikpunkte in den Texten und weitere Optimierungspotentiale. Zudem erhalten die Studierenden nun einen Crashkurs zum Thema Lektorieren und Rechtschreibprüfung, um die Texte nun gezielt auch in diesem Bereich fortzuentwickeln. Außerdem schärfen die Dozierenden insbesondere inhaltlich nach und weisen auf wichtige Punkte in Epoche, Thema und Methodik der Texte hin. Um Probleme mit studentischen Autor:innen und Perspektivität zu verringern, die Abwechslung zu erhalten und den Kompetenzzuwachs bei allen Studierenden zu sichern werden die Texte nun neu verteilt.
Auch hier erhalten die studierenden Redakteure nun Zeit, ihre neuen Texte aufmerksam durchzuarbeiten und dann auf Grundlage ihrer Recherchen und Anmerkungen sowie der Diskussionen der Redaktionssitzung ein zweites Gutachten zu verfassen. Nach Abschluss und Prüfung der Gutachten werden auch den neu zugeordneten studentischen Redakteur:innen die Kontaktdaten der studentischen Autor:innen übergeben, sodass diese gemeinsam mit ihnen die Texte erneut überarbeiten können.
Die so ein zweites Mal überarbeiteten Texte wurden dann in einem weiteren Wochenendseminar vorgestellt, insbesondere die Änderungen und das Vorgehen gemeinsam besprochen. In dieser finalen Sitzung werden die Studierenden noch einmal aufgefordert, die Texte und deren Entwicklung zu besprechen und finale Änderungen am Text vorzuschlagen. Basierend auf den gesammelten Diskussionspunkten wird hier auch im Konsens-Verfahren der beste Text gekürt, der später in jeder Ausgabe mit einem Preis über 200 Euro ausgezeichnet wird. Nach der finalen Diskussion wurden die letzten Änderungen an die Autor:innen übergeben, die ihre Texte entsprechend anpassen und final dem Dozierenden-Team übergeben. Die Zusammenarbeit mit dem Verlag bis zur finalen Veröffentlichung wurde dann von den Dozierenden übernommen, die auch eine finale Prüfung auf formale Vorgaben vornahmen.
Auf Anregungen aus dem Studierendenkreis entstand zudem die Möglichkeit, dass sich die studentischen Redakteur:innen ebenfalls mit Texten an einer Ausgabe beteiligten. Dazu durften sie zu selbst ausgewählten Veröffentlichungen, die ebenfalls von Studierenden geschrieben worden sein mussten, Rezensionen in den jeweiligen Ausgaben von Historia Prima veröffentlichen.
Aus diesem Vorgehen wird deutlich, wie die hochschuldidaktische Konzeption von Historia Prima zu verstehen ist: Die Studierenden, ihre Lernerfahrung und ihr Vorgehen stehen im Mittelpunkt des Projektes. Es gibt einen organisatorischen Rahmen, aber das konkrete Vorgehen, die Absprachen und der Umgang mit den studentischen Autoren liegt im Ermessen der Studierenden. Sie übernehmen die redaktionelle Arbeit inklusive dem Peer Review, der Fragestellungs-, der Argumentations- und Zitationsoptimierung sowie der Inhaltsprüfung.
Das hat auch deshalb einen enormen Vorteil, da die studentischen Autoren erfahrungsgemäß eine große Vielfalt an Inhalten und Methoden liefern. Die Studierenden selbst sind dafür verantwortlich, die inhaltliche Vertiefung in Epoche, Methode, Thema und Referenzwerke ihrer studentischen Autoren nachzuvollziehen. Dass die Studierenden sich die Texte in Absprache selbst aussuchen dürfen steigert dabei ihre intrinsische Motivation und stellt sicher, dass die Themen angemessen verteilt werden. Dass die Überarbeitungen im Rahmen der Redaktionssitzungen mit den Peers besprochen werden und jeder Text im Laufe des Prozesses im Wechsel von mehreren studentischen Redakteuren betreut wird, stellt zudem eine angemessene multiperspektivische Betrachtung sicher.
Hinzu kommt, dass das Seminar in enger Abstimmung mit dem Hildesheimer Universitätsverlag stattfindet. Mitarbeiter des Verlages nehmen an Redaktionssitzungen teil, sind an den öffentlichen Buchpräsentationen beteiligt und stehen in enger Absprache mit dem Dozierenden-Team. So wird sichergestellt, dass die Studierenden auch Einblicke in die konkrete Verlagsarbeit erhalten, dass die Qualität und das Format der Texte perfekt auf die Publikation durch den Verlag angepasst ist und durch die studentische Entscheidung zu Style Sheet, Layout und Umschlag des Werkes die Studierenden selbst eine starke Identifikation mit den Ausgaben vorliegt.
Die Publikation
Historia Prima baut auf zwei Säulen auf: Einerseits ist es eben dieses innovative Lehrprojekt, in dem Studierende in einem Projektseminar ein Redaktionsteam bilden und problembasiert selbstständig arbeiten. Andererseits ist Historia Prima auch das Ergebnis dieser Arbeit: Ein studentisches, jährlich erscheinendes Jahrbuch, das inhaltlich vielfältige Themen der Geschichtswissenschaft und Geschichtsdidaktik sowie angrenzender Disziplinen und Methoden abbildet.
Auf diese Weise stärkt Historia Prima den Weg von Studierenden in die Wissenschaft. Sie können mithilfe von Historia Prima in einem sicheren Rahmen und in einem kollegialen Austausch mit Kommilitonen ihre erste Publikation erarbeiten. Angesichts aktueller Debatten zu dieser Frage erhalten sie so einen leichteren Zugang zur Wissenschaft und können nach dem Studium leichter angestellt werden.
Dies verfolgen wir auch aus Überzeugung, denn es ist ein anerkanntes Problem, dass immer wieder hervorragende Hausarbeiten aber auch Abschlussarbeiten wie Bachelorarbeiten und Master-Arbeiten mit Erkenntnissen, die für die breite geschichtswissenschaftliche Forschung relevant wären, Kleinststudien über Partikularphänomene mit großer Beispielhaftigkeit oder methodisch innovative Konzepte nach der Abgabe in Archiven „verstauben“. Diese potentiell relevanten und förderlichen Arbeiten werden durch die Publikation bei Historia Prima für eine breite wissenschaftliche Öffentlichkeit sichtbar und nutzbar gemacht.
Die einzigen Bedingungen dafür sind, dass eingereichte Hausarbeiten und Abschlussarbeiten sehr gut bewertet wurden, die Studierenden aus Niedersachsen stammen bzw. zum Zeitpunkt der Einreichung an einer niedersächsischen Universität eingeschrieben sind und dass sie bereit sind, gemeinsam mit dem studentischen Redaktionsteam an ihren Texten zu arbeiten.
Diesen Wünschen nach mehr Öffentlichkeit für hervorragende studentische Arbeiten und mehr Möglichkeiten für junge studierende Forschende folgend sind sämtliche Ausgaben von Historia Prima nicht nur als gedruckte Ausgaben erhältlich und in zentralen Bibliotheksbeständen ausleihbar, sondern auch im Open Access Format frei zugänglich. In Zusammenarbeit mit dem Universitätsverlag Hildesheim und dem dort angesiedelten Publikationsserver HilPub sind die gesammelten Ausgaben wie auch die einzelnen Beiträge kostenfrei als PDF herunterladbar und über die Bestandssuche beziehbar, um die Auffindbarkeit der Texte zu maximieren.
Nicht möglich wäre das Projekt dabei ohne die vielen Unterstützer des Projektes. Neben dem bereits genannten Universitätsverlag ist hier das Institut für Geschichte der Universität Hildesheim zu nennen, das die Infrastruktur und die organisatorische Hintergrundarbeit liefert. Finanziell wurde das Projekt durch das Niedersächsische Ministerium für Wissenschaft und Kultur gefördert, das mit der Linie „Innovation plus“ zur Entwicklung innovativer Lehr-Lern-Konzepte beigetragen, so das Projekt in dieser Form erst ermöglicht und perfekt mit den Zielen des Projektes übereingestimmt hat.
Zur Förderung der besten studentischen Arbeiten und als Anreiz zur Einreichung von Artikeln hat zusätzlich die Volksbank Hildesheim mehrmals den Volksbank Award finanziert, mit denen wir den besten Beiträgen der Ausgaben eine kleine Auszeichnung verleihen konnten.
Projektmitglieder und Ausrichtung
Das Projektteam von Historia Prima ist im Laufe der Jahre organisch gewachsen. Die Projektleitung bestand aus PD Dr. Philipp Strobl und Dr. Severin Cramm, die insbesondere in der Anfangszeit als wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Hildesheim tätig waren.
PD Dr. Philipp Strobl lieferte insbesondere eine umfassende Erfahrung mit studentischen Veröffentlichungen und Publikationen. Schon während seiner vorausgegangenen Arbeit an den Universitäten Innsbruck, Melbourne, Bratislava und New Orleans erprobte er studentische Beteiligung an Publikationsformaten und ihre Einbeziehung in die wissenschaftliche Praxis.
Dr. Severin Cramm legte neben seiner eigenen wissenschaftlichen Promotion während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Hildesheim großen Wert auf studentische Beteiligung und outputorientierte Seminare und Proseminare. Er orientierte sich dabei an SCLT-Methodik und moderner Hochschuldidaktik.
Gemeinsam entwickelten sie das Pilotprojekt „Transkulturelle Geschichte im 21. Jahrhundert aus studentischer Perspektive“, bei dem im Jahr 2020 die Ansätze zur forschungsorientierten und forschungsintegrativen Lehrausrichtung mit der prozessoffenen, outputorientierten Student-Centered-Learning and Teaching Methodik vereint wurden. Studierende wurden hier an die wissenschaftliche Publikationspraxis herangeführt, indem sie selbst als wissenschaftliche Autor:innen tätig wurden, einen verkürzten und vereinfachten Peer-Review-Prozess durchliefen und den Publikationsprozess damit am eigenen Beispiel erlebten.
Die Ergebnisse dieses Pilotprojektes flossen in eine Weiterentwicklung des Konzeptes ein. Wir erlebten, dass Studierende nicht nur fähig waren, wissenschaftlich zu arbeiten und zu publizieren, sondern von dem Prozess inhaltlich, methodisch und motivational massiv profitierten. So entwickelten wir daraus ein ambitionierteres Projekt: Studierende sollten nicht nur selbst publizieren, sondern andere studentische Autoren auch anleiten und in diesem Prozess begleiten. Nachdem die Finanzierung hierfür durch eine Projektförderung durch das Land Niedersachsen erreicht war, war das Projekt Historia Prima geboren.
Nun stieß zu dem Projekt auch die wissenschaftliche Hilfskraft Dinh Chien Do hinzu, der bereits an dem Pilotprojekt als Autor beteiligt gewesen war und der sich durch auffällig großes Engagement auszeichnete. Er übernahm die Projektkoordination, das Stakeholder-Management mit Verlag und Archiven sowie die Terminabsprachen mit den studentischen Autoren und Redakteuren. Damit jedoch nicht genug: Im Laufe der Zeit engagierte sich Herr Do auch in der Lehre, brachte eigene Impulse in die Seminargestaltung ein und etablierte sich so als fester, unverzichtbarer Bestandteil des Dozierendenteams.
Das Projekt ist dabei genuin transdisziplinär aufgebaut. Erfahrungsgemäß verfassen Studierende auffällig häufig Texte zu bisher eher unbeleuchteten Zeitspannen der Geschichte, ziehen bisher wenig oder nicht genutzte Quellen hinzu oder verwenden besonders innovative oder disziplinübergreifende Methodik. Das Denken außerhalb von Grenzen und die Begeisterungsfähigkeit für unerforschte Felder zeichnet Studierende aus und bietet damit auch einen enormen Mehrwert für die Geschichtswissenschaft.
Auswirkungen und Erkenntnisse
Aus den Erfahrungen des Pilotprojektes und des groß aufgezogenen Lehr- und Forschungsprojektes Historia Prima lassen sich nach insgesamt 5 Jahren diverse Erkenntnisse für eine moderne Hochschuldidaktik ziehen. Studierenden sollten unserer Ansicht nach als handelnde Subjekte ernst genommen, ihr Entwicklungsweg in den Fokus genommen und ihre Motivation, ihre Neugierde und ihr Forschungsdrang gefördert werden.
Die erste Erkenntnis dabei ist wenig erstaunlich, sollte aber sehr stark betont werden, da sie in der Hochschullehre dennoch noch zu wenig Beachtung findet: Eine gesteigerte Autonomie der Studenten in der Hochschullehre steigert deren Motivation und ihre eigene Wahrnehmung von Selbstfähigkeit. So werden die häufig von Lehrenden beklagten Mangel an Engagement und Selbstständigkeit von Studierenden unserer Erfahrung nach abgemildert oder ins Gegenteil gewandelt. Studierende, die sich in ihren Ansichten und Vorgehensweisen wertgeschätzt und ernst genommen fühlen, sind eher bereit dazu, an Seminaren teil zu nehmen, sich in diesen zu engagieren und auch über das Seminar hinaus an den Inhalten, Methoden und Themen zu arbeiten. Sie arbeiten nicht mehr nur für abstrakte „Credits“, sondern haben ein Interesse an einer hochwertigen Publikation als Ergebnis.
Hinzu kommt, dass die Studierenden durch die redaktionelle Arbeit am praktischen Beispiel den wissenschaftlichen Publikationsprozess erleben. Wie bereits andere Forschungen nahelegen, verstehen die Lernenden so den wissenschaftlichen Betrieb und die wissenschaftliche Praxis sehr viel besser als durch das reine Konsumieren wissenschaftlicher Literatur oder die Beschäftigung mit dieser. Übertragen wir dies auf die Hochschullehre, so führen wir Studierende nicht nur in einem sicheren Rahmen an die Wissenschaft, sondern stärken auch die wissenschaftliche Praxis selbst, da die Studierenden neue Ansätze, frische Ideen und Innovation in die Wissenschaftswelt tragen.
Durch die Selbstorganisation und die eigene Auswahl von Methodik und Ansprache studentischer Autor:innen steigern wir zudem ihr Verantwortungsgefühl. Die Studierenden identifizieren sich stärker mit den Texten und den Autor:innen und nehmen eine höhere Selbstwirksamkeit wahr. Auch vorige Studien wiesen bereits auf die Vorteile studentischer Selbstorganisation und die Arbeit in Projektgruppen zur Lösung individueller Probleme hin. Hier wurde festgestellt, dass insbesondere die soziale Interaktion die Identifikation mit der gemeinsamen Arbeit fördert. Die Erfahrungen unseres Projektes bestätigen diese These. Die Studierenden identifizierten sich mit der Ausgabe, sie engagierten sich für das Ergebnis und organisierten sich untereinander selbstständig. Dies bewirkte als Nebeneffekt auch ein sehr großes soziales Miteinander der Studierenden untereinander und einer sehr starken Gruppenwahrnehmung.
Ergebnis dieser stärkeren Identifikation und des vertieften Engagements ist also ein vertieftes Wissen. Was wir in unserem Projekt jedoch darüber hinaus feststellen konnten, war eine längerfristige Verankerung des Wissens und viel nachhaltigere Beibehaltung wissenschaftlicher Prinzipien in das methodische Vorgehen der Studenten. Studien aus der Organisationssoziologie oder der Pädagogik weisen ebenfalls bereits in diese Richtung: Selbstorganisierte Teams, die innerhalb von sicheren Umgebungen mit komplexen Aufgaben konfrontiert werden und geeignete Methoden selbst aussuchen und anwenden müssen, um ihre Ziele bestmöglich zu erreichen, modifizieren ihr Vorgehen stark, gehen innovativer und flexibler vor und identifizieren sich mit dem Ergebnis sehr stark. Dies führt dazu, dass nicht nur die inhaltlichen Ergebnisse sehr viel stärker gefestigt werden, sondern dass gerade das Vorgehen, die Stärken und Schwächen von Methoden und gerade auch die Vorteile akribischen und genauen Vorgehens sichtbar und stärker verinnerlicht werden. So entsteht ein wahrhaft bleibender, dauerhafter methodischer Zuwachs.
So erreichten wir mit dem Projekt eine nachhaltige Stärkung wissenschaftlicher Praxis und einen größeren Praxisbezug in der Hochschullehre. Gleichzeitig trugen wir interessante studentische Beiträge und Ansichten in die wissenschaftliche Öffentlichkeit und ermöglichten Studierenden so auch erste Publikationserfahrungen.
Der Preis dafür war ein deutlich höherer Zeit- und Betreuungsaufwand für das Dozierendenteam, der das Normalmaß anderer Seminare bei weitem überstieg. Das Seminar erforderte unter anderem, dass weit vor Beginn der eigentlichen Redaktionssitzungen schon der CfP an Universitäten verteilt, Dozierende sensibilisiert und für die Einsendung von Beiträgen geworben wurde. Auch mussten die Studierenden während des Seminars stets Ansprechpartner im Dozierendenteam haben und auch auf abwegige oder eher zwischenmenschliche Probleme reagiert werden. Schließlich blieb auch noch die Zeit nach dem Semester, in dem die finale Publikation betreut, jeweils eine Buchpräsentation vorbereitet und durchgeführt und zudem die Preise vergeben werden mussten.
Unserer Erfahrung nach lohnte sich dieser Mehrwert. Es entstand durch das Seminar ein Netzwerk aus studentischen Redakteur:innen und Autor:innen, das noch weit nach den Seminaren nachwirkt. Niedersächsische Dozierende standen im Austausch miteinander und berieten die studentischen Beiträge. Andere Institute an der Universität Hildesheim wurden auf das Projekt aufmerksam und beraten aktuell eigene davon inspirierte Lehrprojekte. Einige der beteiligten Studierende streben auch aufgrund der Erfahrungen eigene wissenschaftliche Laufbahnen an. Und nicht zuletzt ist Historia Prima als studentisches Jahrbuch ein anerkanntes Publikationsorgan geworden, in dem sich mittlerweile eine große Anzahl an Themen, Methoden und Inhalte versammelt haben.
Der weitere Weg
Das Projekt ließe sich noch mannigfaltig erweitern, um weitere didaktische Ansätze aufzunehmen und den Gewinn für die Studierenden noch weiter zu stärken. So könnten in die redaktionelle Arbeit Konzepte agilen Projektmanagements integriert werden, die die Zusammenarbeit selbst in den Blick nehmen und so auch die sozial-organisatorische Struktur selbst betrachten. Dies ließe sich erweitern, indem auch von Dozierendenseite agile Methoden wie Kanban für die Aufgabenverteilung und das Nachverfolgen des Projektfortschritts präsentiert und diese Methodik zur Priorisierung verwendet werden würde. Auch die Organisation von Dozierenden- und Studierdenenaustausch könnte von modernen didaktischen Ansätzen profitieren, indem etwa Flipped Classroom-Modelle Effektivität, Flexibilität und Lernzuwachs in dem Seminar zusätzlich unterstützen. All dies wären Wege, die hervorgehobenen Vorteile dieses Projektseminars weiter zu stützen.
Dies wird sich im Rahmen von Historia Prima nicht mehr testen lassen. Versteht man das Projekt aber als Anstoß in die richtige Richtung, so hat es diesen Auftrag voll erfüllt. Die Teilnehmenden berichten weiterhin von dem Mehrwert, den sie aus dem Projektseminar bis heute ziehen und von vielfältigen Gebieten, in denen ihnen die dort vermittelten Kompetenzen bis heute helfen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ansätze in Zukunft in einer noch breiteren Form Anklang finden und noch mehr Seminare sich output-orientierten und problembasiertem Lernen öffnen. die Vorteile dieses Vorgehens sind aus unserer Sicht vielfältig und bieten große Chancen für Studierende.

Dr. Severin Cramm ist Dozent, Moderator und Researcher. Er hat in Hildesheim Deutsch und Geschichte studiert, war dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter tätig und promovierte im Jahr 2021 in Zeitgeschichte. Seitdem arbeitet er in verschiedenen Funktionen als wissenschaftlicher Projektleiter, Workshop- und Schulungsmoderator sowie als Markt- und Trendforscher an privaten wie auch universitären Einrichtungen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Zeitgeschichte, insbesondere in der Internationalen Geschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie im agilen Projektmanagement. Zuletzt leitete er gemeinsam mit Priv. Doz. Dr. Philipp Strobl das Projekt Historia Prima.
